Vastu
Vastu ist eine alte indische Anschauung über das richtige Gestalten und
räumliche Ausrichten von hinduistischen Tempeln. Vastu bedeutet
Umgebung und Natur. Die Vastu-Lehre geht davon aus, dass auf die Erde
verschiedene positive oder negative Einflüsse einwirken: die
Himmelsrichtungen, die Sonne, der Mond und die Planeten. In diesem
Zusammenhang wird Vastu auch die Eigenschaften von fünf Elementen berücksichtigen:
Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther (Raum).
Der Tempel ist der charakteristische künstlerische Ausdruck des
Hinduismus und Brennpunkt des sozialen wie des spirituellen Lebens der
Gemeinschaft, der er dient. Tempel sind in allen Teilen Indiens zu
verschiedenen Zeiten gebaut worden. Der Tempel spiegelt die Ideale und die
Lebensweise derer wider, die ihn erbauten und denen er Brücke zwischen
der Welt des Menschen und der Welt der Götter ist. Der Platz für
den Tempel muß nahe einem als heilig anerkannten Ort liegen und sich
durch natürlich Schönheit und eine friedvolle Atmosphäre
auszeichen.
Planung
Sobald ein Tempelplatz gewählt
und rituell gereinigt ist, geht man an die Planung des Grundrisses : eine
Aufgabe von großer Bedeutung, da der Tempelgrundriß als heiliges
geometrisches Diagramm (Mandala), der essentiellen Struktur des Universums
fungiert. Das Mandala ist eine konzentrische Bildfigur, im allgemeinen ein
Quadrat, das durch ein Gitter von Schnittlinien in mehrere Unterquadrate
aufgeteilt ist. Diese Anordnung zentraler Quadrate mit anderen, sie
umgebenden Quadraten wird als mikroskopisches Bild des Universums in seiner
konzentrischen Struktur angesehen. Indem man das Diagramm zum formalen
Ordnungsprinzip des Tempels macht, stellt man eine symbolische Verbindung
her und verknüpft die Welt der Götter - das Universum - und ihre
Miniatur-Rekonstruktion - das Menschwerk Tempel. Die Voraussetzung, auf der
eine solche Identifizierung des Universums mit seinem Modell beruht, ist
eine räumliche und physikalische Übereinstimmung zwischen der Welt
der Götter und der des Menschen.
Errichtung
Die Errrichtung eines
Tempels für die Götter wurde auch zum Besten der ganzen Gemeinde
unternommen, für die der Tempel da war und deren gemeinsames
geistliches Streben er verkörperte. Auf diese Weise versorgte der Hindu
Herrscher über eine Gemeinde seine Untertanen mit jenen Einrichtungen,
die ihnen ein spirituelles Leben möglich machten. Durch den Tempelbau
hatte er ferner die Möglichkeit, Ruhm, wenn nicht sogar Unsterblichkeit
zu erlangen, da nach dem Shilpaprakasha (eine Handschrift über den
Tempelbau) "alles mit der Zeit vergeht, ein Denkmal aber ewig besteht".
Der Tempelbau teilte die physische Macht des Herrschers mit, da er einen
Ausdruck seiner wirtschaftlichen Mittel darstellte.
Ziegel - und Steinbauten
Der
eigentliche Hindutempel entwickelt sich aus dem vedischen Altar, einem Block
aus gebrannten Ziegeln, die als Urbild der Erde, vom Feuer gereinigt,
wirken. Das grundlegende architektonische Prinzip des aufgeführten
Hindu-Tempels findet seinen Ausdruck stets in einem Trägersystem aus
ausschließlich horizontalen und vertikalen Bauteilen; für
Stabilität sorgen dabei massive Kompositionen aus vertikalen Elementen,
wie beispielsweise Stützen und Pilastern, mit ebenso schweren
Querbalken und Stürzen. Besonders charakteristisch für diese Ständer
-Balken-Bauweise sind die zum Überspannen von Öffnungen und zur
Schließung von Innenräumen eingesetzten Techniken. Die meisten Öffnungen
in Hindu-Tempeln sind mit einem einzigen Bauglied überbrückt,
einem Sturz entweder aus Stein oder Holz; Innenräume werden gewöhnlich
mit horizontal aufgelegten Steinplatten abgedeckt (zuweilen gibt man
allerdings schrägen Dachplatten den Vorzug), die zwischen Stützbalken
oder Wänden lagern. Die Stän der - Balken-Bauweise wird durch eine
Entwicklung von Kragtechniken erweitert, bei denen man Steine oder Ziegel in
jeder Horizontalschicht weiter vorspringen läßt, um den Abstand
zwischen zwei Wänden soweit zu verkleinern, daß er zuletzt mit
einem einzigen Stein oder Ziegel geschlossen werden kann. Faktoren eines
funktionalen Konstruktionsprinzips haben in der Entwicklung hinduistischer
Tempelarchitektur niemals eine Rolle gespielt. Das Konstruktionsschema von
Stütze - Sturz - Kragstein liegt der gesamten hinduistischen Bautätigkeit
zugrunde, und andere strukturelle Prinzipien wie zum Beispiel die der
Konsole und der Kuppel werden nur ganz ansatzweise wirksam. Folglich zieht
das Element der Dachkante, die von der Wand vorspringt und das Trägerprinzip
in sich schließt, niemals irgendeine echte strukturelle Anwendung im
hinduistischen Bauzusammenhang nach sich. Die Gliederung von Innendecken ist
ebenfalls bewußt auf die Überlappung verschiedener Steinschichten
oder aber auf die Anordnung diagonaler und rechtwinkliger Steinlagen zu
Mustern axial rotierender und kleiner werdender Quadrate beschränkt.
Manchmal verwendet man zur Gestaltung komplexer Muster kreisförmige
Steinschichten, die mit abnehmendem Durchmesser übereinanderliegen -
gelungene Beispiele dafür sind etwa die aus dem 10. und 11. Jahrhundert
stammenden Tempel von Rajasthan. Zu keiner Zeit hat man in Hindu- Bauten das
Prinzip des Bogens mit radiierenden Komponenten wie Gewölbesteinen und
Schlußsteinen eingesetzt.
Das Mandala
Das Mandala des
Tempelgrundrisses gilt auch als symbolisches Pantheon der Götter, da
jedes der kleineren Quadrate des Diagramms den Sitz einer bestimmten
Gottheit darstellt. Das zentrale und größte Quadrat ist gewöhnlich
von Brahma oder einer anderen mit der Schöpfung betrauten Hauptgottheit
besetzt. Um dieses Quadrat herum sind die Planetengottheiten angeordnet, die
Wächter der Himmelsrichtungen und andere Gestirngottheiten. Das Mandala
ist somit in der Lage, die Bahnen der Himmelskörper einzubeziehen, die
in Zusammenhang mit allen wiederkehrenden Zeitenfolgen stehen. Unter Umständen
enthält es auch ein diagonal eingepaßtes Bild des kosmischen
Mannes, wobei jedes Quadrat mit einer Partie seines Körpers verbunden
ist. Diese kosmische Gestalt wird mit den Schöpfungsprozessen des
Universums und der ihr zugrundeliegenden Struktur gleichgestzt.
Königlischer Schutzherr
Die
Heiligkeit des Tempels erheischt natürlich zu jeder Zeit Schutz vor
unerwünschten negativen Kräften, zuweilen als böse Geister
oder Dämonen personifiziert. Tatsächlich ist das gesamte
Tempelbauprogramm durch eine Fülle von Ritualen bestimmt, die bei
heiklen Augenblicken während des Bauvorganges adäquaten Schutz gewähren
sollen, insbesondere bei der Wahl des Standorts, der Auszeichnung des
Grundrisses auf dem Boden, der Grundsteinlegung sowie in der Endphase des
Baus, wenn der Abschlußstein auf der Spitze des Tempelturms angebracht
wird. Auch nach seiner Vollendung benötigt der Tempel weiterhin Schutz
als Ort, an dem die Macht des Göttlichen zum Wohl der Gemeinschaft nach
außen strahlt. Die symbolischen Prozesse, die es zulassen, den Tempel
mit der kosmischen Ordnung und mit der Welt der Götter zu
identifizieren, bedürfen ebenfalls fördernder Einflüsse.
Mandap
Ein Tempel ist kein
Versammlungsplatz, gemeinschaftlicher Gottesdienst ist nicht vorgesehen. Größere
Tempel enthalten allerdings eine offene oder halboffene Säulenhalle vor
dem Eingang zur Cella des Tempels. Hier können kulturelle
Veranstaltungen (Musik, Tanz) zu Ehren der Gottheit stattfinden; hier findet
man Gruppen, die sich zur gemeinsamen Rezitation des Gottesnamens oder zum
Singen und Anhören von Hymnen versammeln; hier können auch das
Vorlesen und die Erläuterung heiliger Schriften erfolgen.
Schoßkammer
Ein kleines
Sanktuarium im Innern des Tempels, das als Schoßkammer (Garbhagriha)
bezeichnet wird - schon der Begriff zeigt an, daß hier der innerste
Kern des Tempel umschlossen ist-, beherbergt Kultbilder und Symbole der
Gottheit, der der Tempel geweiht ist. Das Götterbild oder -symbol
stellt ein Mittel zur Vereinigung mit dem Göttlichen dar, wird im
allgemeinen jedoch nicht mit der Gottheit identifiziert - Gott oder Göttin
wohnen nur zeitweilig im Innern des Bildes. Eine solche temporäre Übereinstimmung
von Form und göttlicher Anwesenheit kommt nur dann zustande, wenn das Götterbild
oder -symbol zuvor durch komplizierte Ritualweihen für die Verehrung
vorbereitet und anschließend zeremoniell eingeschreint worden ist. Präzise
Vorschriften regeln die Herstellung dieser Sakralbilder und -symbole, auf daß
sie als geeignete Aufenthaltsorte für die Gottheit ihren Zweck erfüllen.
Die devotionalen Kulte, denen der Hindu-Tempel dient, konzentrieren sich
zwangsläufig auf das Götterbild oder -symbol in der Schoßkammer,
doch erstreckt sich die Verehrung übergreifend auf den Tempel
insgesamt. Folglich ist der Tempel nicht nur ein Ort, sondern auch
Gegenstand der Verehrung. Die Gottheit, die sich im Innern des Sanktuariums
zeigt, kann sich auch im Bau des Tempels selbst offenbaren. Aus dieser Sicht
gelten die architektonischen und skulpturalen Komponenten des Tempels als
Beschwörungsformeln der göttlichen Anwesenheit, und Mythologie,
Brauchtum und Kunst treffen sich in dem gemeinsamen Versuch, die
mannigfaltigen Manifestationen und Großtaten der Götter und Göttinnen
darzustellen. Die gesamte hinduistische Kunst zielt darauf ab, die
himmlischen Gefilde der Götterwelt nachzubilden.
Sakralbilder
Das Allerheiligste der
Tempel enthält meist eine Statue aus Stein, Metall oder ein
entsprechendes Symbol des betreffenden Goddes. Das Bild der Gottheit repräsentiert
das Mittel zur Kommunikation. Die Größe des Gesichtes bildet in
der Regel des Modul für den Körperaufbau. Mit dem Öffnen der
Augen wird das Bild zu einem potentiellen Erscheinungsort der Gottheit,
nicht ihr permamenter Sitz. Sakralbilder von Göttern und Göttinnen
müssen möglichst schön sein, damit die Gottheiten dazu bewegt
werden, ihre Wohnung in der Hülle zu nehmen. Die hinduistische Kunst
hat besondere Körpertypen für ihre Sakralbilder entwickelt. Bei
den Göttern sind Schultern und Brust breit, sie haben eine schlanke
Taille, einen leicht über den Gürtel quellenden Bauch, kräftige
und eher zylindrische Glieder. Wesentliche Merkmale der weiblichen Gestalt
sind ein kunstvoller Kopfputz, Schmuck, üppige kugelförmige Brüste,
eine enge Taille, breite Hüften und eine anmutige Haltung.
Sikhara
Der Tempelturm Sikhara bezeichnet als Abbild des mythischen Weltberges Meru
den Fixpunkt in einer potentiell ungeordeneten Welt. Orientiert nach den
Hauptrichtungen, repräsentiert er Ordnung in physischem und
gedanklichen Sinne. Die Spitze des Turmes wird bekrönt von einem glückverheißenden
Wasserkelch (Kalasa), der die "Grenze" symbolisiert, an der sich
die Welten der Götter und Menschen treffen. Die Spitze symbolisiert das
Absolute, das nicht der Wiederholung unterliegt. Sie stellt das Ziel des Bemühens
dar.
Besuch zum Tempel
Der Verehrende muß
selbstverständlich rein sein, d.h. der Gottesdienst erfolgt nach dem täglichen
Bad und vor der Mahlzeit. Die Tempelbesucher schlagen die Glocke am Eingang
des Tempels an (um sich anzumelden, aber auch, um böse Einflüsse
zu verscheuchen). Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, denn
feste Gebetsstunden gibt es nicht. Der Weg zum Tempel ist für den Hindu
nicht notwendig, er geht meist nur aus einem besonderen Anlaß dorthin,
vor allem wenn er sich von einem bestimmten Gott Hilfe und Segen verspricht.
Umkreisung
Zu den wichtigsten
Ritualen der Hindus gehört die Umkreisung (Pradakshina) der Cella im
Uhrzeigersinn. Dadurch wandelt der Gläubige sinnbildlich dem Sonnenlauf
folgend im Pfade der ewigen Weltordnung. Erst wenn die Pradakshina beendet
ist, trifft man ein.
Priester
Alle Dienste am Götterbild
werden von Priestern stellvertretend vollzogen, oft hinter verschlossenen Türen.
Im Tempel tritt ein Priester vermittelnd zwischen Gottheit und Verehrer. Der
Priester nimmt die mitgebrachten Gaben entgegen und verteilt den Segen der
Gottheit, entweder in Form von Wasser, das mit dem Götterbild in Berührung
gekommen ist, oder in Form von Speisen, die der Gottheit dargereicht wurden
und als deren Gnadengabe den Verehrern zurückgegeben und von diesen
gegessen werden. Der Priester versieht die Stirn der Tempelbesucher mit
einem Punkt aus rotem Puder, um deutlich zu machen, daß sie unter dem
Schutz der Gottheit stehen. Der Priester segnen auch die Gläubigen mit
Weihwasser. Die meisten Opferpriester, man nennt sie Pujaris, sind einfache
Männer, keine gelehrten Theologen, sondern Handwerker des
Gottesdienstes; die gelehrten Brahmanen, aber auch die Brahmanen, die es in
weltlichen Berufen zu etwas gebracht haben, schauen auf diese ihre ärmeren
Kastengenossen mit mitleidiger Geringschätzung herab. Es gibt bei den
Hindus in Glaubensdingen keine Prüfungen, es gibt keine Organisation,
die Priester ernennt und beaufsichtigt. Der Pujari im Tempel hat sein Amt
ererbt, weil er einer Brahmanenfamilie angehört, die denselben Dienst
schon von Alters her ausübt. Das Gewohnheitsrecht schützt auch die
Besitzeransprüche des Gottes auf seinen Tempel und die damit
verbundenen Ländereien. Hauptsächliche Einnahmequelle sind für
den Tempel die Spenden.
Verehrungszeremonie
Der Höhepunkt
der Verehrungszeremonie ist die Arati. Bei der Arati Zeremonie läutet
der Priester eine Glocke, um die Aufmerksamkeit des Gottes zu erwecken, der
sich vielen als im Kultbild anwesend vorstellt. Er bewegt eine Öllampe
dreimal im Kreis vor der Statue und hält sie dann den Gläubigen
entgegen, die ihre Hände über die Flamme beugen und danach ihre
Stirn berühren, um das Göttliche in sich aufzunehmen. Viele Götterstauen
werden in täglichem Zeremoniell morgens mit Tempelmusik geweckt,
gewaschen, angekleidet und geschmückt, tagsüber mehrfach gespeist
und abends in ein Schlafgemach zu Gemahl oder Gemahlin gebracht. Einmal jährlich
werden sie in riesigen hölzernen Wagen durch Dorf oder Stadt gezogen,
um aus erhabener Höhe allen Gläubigen Segen zu bringen.
Opfergaben
Beliebte Opfergaben sind etwa Nahrungsmittel wie Reis, Früchte und
Kokosnüsse, die mit Blumen und dem Duft von Räucherstäbchen
den Göttern zur Entnahme ihres geistigen Gehalts angeboten werden. Die
Kokosnuss stellt die Früchte der vergangenen Handlungen dar. Wenn diese
Früchte, in der Form der latenten Tendenzen (Vasanas), in einem Tempel
oder dem Guru dargebracht werden, symbolisieren sie das Aufgeben dieser
Vasanas. Die Kokosnussschale stellt den groben Körper dar, und der
innere Kokosteil stellt den feinen Körper mit all seinen Wünschen
und Bindungen dar. Ehe Gläubigen dem Herrn eine Kokosnuss darbringen,
entfernt der Priester die Schale zusammen mit dem Kokos, und lässt nur
einen kleinen Kokosbüschel am Kopf der Kokosnuss übrig. Der Büschel
stellt den einen Wunsch dar, den ein Mensch haben soll: den Wunsch, die
Perfektion zu erreichen. Wenn der Priester die Kokosnuss darbringt, entfernt
er den Büschel und zeigt die drei Augen auf der Schale. Das dritte Auge
symbolisiert das "Auge der Weisheit," welches die intuitive Sicht
des Selbst verleiht. Dann bricht der Priester die Schale auf, und zeigt den
inneren weissen Kern, der das Aufbrechen des Intellekts symbolisiert und die
Freigabe aller höchsten (sattvischen) Eigenschaften. Die Kokosnussmilch
fliesst heraus zu Füssen des Herrn, das Verschmelzen des individuellen
Selbst mit dem unendlichen Selbst symbolisierend. Priesterlich geweiht
werden sie anschließend von den Gläubigen als heilbringende
Speisen (prasad) verzehrt.
Schuhe beim Eingang
Schuhe bleiben
selbstverständlich immer draußen vor dem Eingang. Den Schmutz der
Straße ins Innere des Tempels zu tragen, wäre ein Sakrileg.