Die indische Architektur ist, abgesehen von
Festungs-und Palastbauten, v.a. eine Sakralarchitektur. Die Schutz- und Repräsentationsfunktion
stand bei den Festungen und Palästen im Vordergrund, wohingegen sich in
der Sakralarchitektur die Vorstellungen der unterschiedlichen Religionen
widerspiegeln. Erst in der modernen Architiktur seit der Unabhängigkeit
und bei den Bauten der Metropolen kommen andere Kriterien zur Anwendung.
Entsprechend ihrer geschichtlichen Entstehung kann die indische Architektur
in drei wesentliche Perioden eingeteilt werden, die jeweils bestimmte Typen
entwickelt haben. Bis zum 6. Jh. wurde sie stark vom Buddhismus beeinfusst,
danach entstanden hinduistische Regionalreiche, in denen sich
unterschiedliche Arten von Tempelbauten entwickelten. Von diesen sind der
Nagarastil der nordindischen Tempel und der Dravidastil Südindiens die
wichtigsten. Ab dem 12. Jh. Entstand schließlich der islamische Bautyp
mit den Hauptbauten Moschee, Grabbauten und Palästen. Die von den Engländern
gebauten Anlagen waren meist an der europäischen Architektur orientiert
und dienten vor allem der Repräsentation. Nach der Unabhängigkeit
gab es nur wenige ambitionierte Projekte , in denen Sakralbauten (Bahai
Tempel in Delhi) oder auch ganze Städte (Chandigarh in Punjab)
entworfen und gebaut wurden.
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Die hinduistische Architektur |
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Die
ältesten Hindutempel, Bauten aus Holz und Lehm, haben die Jahrtausende
nicht überlebt. Die späteren Steintempel versuchten jedoch, die
Holztempel nachzuahmen. Der Hindutempel entwickelte sich als eine Synthese
aus Architektur, Skulptur und Malerei. In den Shilpashastras (Traktate über
die Baukunst) wurden der Grundriss und die Verhältnisse zwischen den
einzelnen Teilen des Tempels genau festgelegt. Die Zahlenverhältnisse
und die architektonischen Elemente sind Versuche, ein komplexes religiöses
System von Symbolen über Zahlenmystik in die Architektur zu übertragen.
Der gesamte Tempel ist eine architektonische Umsetzung symbolischer
Gedanken.
Der Tempel als Kosmos
Der Tempel ist eine Miniaturreproduktion des Kosmos und der Tempelturm
spiegelt die Weltachse, die die Erde mit dem Himmel verbindet, wider.
Deswegen spielen beim Tempelbau die Ausrichtung zur Sonne und die Anordnung
von Figuren, die Tierkreiszeichen symbolisieren, eine wichtige Rolle. Der
Tempel wird sowohl als Repräsentation des Universums als auch als Repräsentation
des menschichen Körpers begriffen. Die kleine Cella (Garbhagriha), in
Seele. Die oberen Teile des Tempels werden meist von Figuren, die sich in
Bewegung befinden, wie Tänzern, göttlichen Nymphen und Musikern
bevölkert, die das Element Luft verkörpern. Im unteren Bereich
sind alle Naturkräfte dargestellt, die nötig sind, den Tempel zu
beschützen. Auch die Darstellung von Liebespaaren (Mithuna-Figuren)
soll ihn vor Blitzen und anderen Naturgewalten schützen.
Grundmuster der Tempelanlage
Die Garbhagriha, der Schrein, in dem die zentrale Götterfigur
dargstellt wird, ist nach Osten gerichtet. Sodass die Strahlen der
aufgehenden Sonne die Gottheit bescheinen können. Um den Schrein herum
verläuft ein Korridor (Pradakshina Patha), der von den Gläubigen
benutzt wird, um die Gottheit um Uhrzeigersinn zu umkreisen. Dies ist ein
wichtiger Bestandteil des Gebets. Über der Cella erhebt sich ein Turm,
der als Shikhara oder Vimana bezeichnet wird. Dem Schrein vorgelagert ist häufig
eine Gebetshalle (Mandapa). Typologisch lassen sich zwei Hauptstile
identifizieren, die sich vor allem in der Form der Bedachung unterscheiden:
der Nagara- und der Dravidastil. Diese grobe Klassifikation soll jedoch nur
eine Orintierung geben, da auch Übergangsformen vorkommen.
Nagarastil
Der Nagarastil ist vornehmlich in Nordindien verbreitet. Charakteristisch
ist der als Shikhara bezeichnete parabelförmige Turm über der
Cella. Der Cella vorgelagert sind mehrere Hallen, die zum Teil von kleineren
pyramidalen Türmen werden. Die frühesten Beispiele dieses Typs aus
der Guptazeit wurden von den ersten islamischen. Eroberern zerstört.
Die Tempel in Osiyan (Rajasthan) aus dem 8. Jh. gehören zu den wenigen,
die noch eine Vorstellung dieser relativ kleinen Tempel geben. Später
entstand unter den Solankiherrschern in Gujarat der Sonnentempel in Modhera
(11. Jh.). Der Shikara ist einteilig, ihm vorgelagert ist eine Vorhalle.
Besonders beeindruckend sind die reichen Skulpturen an den Außenwänden
des Tempels. Gute Beispiele für nächste Phase der Entwicklung sind
die Tempel von Bhubaneshwar und Puri (Orissa). Den einzelnen, sich allmählich
entwickelnden Teilen des Tempels wuden Namen gegeben. Die Cella wurde Deul
genannt, die Vorhalle Jagamohan. Zwischen diesen beiden Teilen, die von
einem konischen, mehrteiligen Turm bekrönt werden, besteht nur eine
enge Verbindung. Dem eigentlichen Tempel sind noch eine Tanzhalle (Nata
Mandapa) und eine Essenshalle (Bhog Mandapa) angeschlossen, die jedoch ein
pyramidales Dach aufweisen. In den Tempeln von Khajuraho (11./ 12.Jh.) ist
der sehr steile Turm konisch und besteht aus vielen kleinen Shikharas, die
sich zu einem organischen Ganzen verbinden. Jeder dieser kleinen Shikharas
erhebt sich über der Darstellung einer Nebengottheit und stellt die
hierarchische Ordnung des Götterhimmels plastisch dar. Auch die Türme
der Vorhallen wachsen langsam im gleichen Stil empor und bilden mit dem
Hauptturm eine komplexe Einheit. In Khajuraho ist der Gang um die Cella
durch Fenster erhellt und mit Figuren ausgestaltet.
Dravidastil
Der dravidische Stil entwickelte sich um das 7. Jh. Herum speziell in Tamil
Nadu. Die frühesten Beispiele dafür sind die Tempel in Mamallapurm
(Mahalipuram) und Kanchipuram. Besonders charakteristisch für diesen
Stil sind die Vimana, die Türme, die sich über der Garbhagriha
erheben. Ist der Tempelturm des Ufertempels in Mamallapuram noch bescheiden,
so wurde er im Lauf der Zeit immer höher: Der Vimana von Thanjavur ist
mit seinen 58 m ein weithin sichtbares Zeichen der Stadt. Vimana vorgelagert
ist die Ardha Mandapa (Vorhalle). Im Lauf der Zeit kamen neue Elemente hinzu
wie die Maha Mandapa (große Halle), die für Musikveranstaltungen
genutzt wurde, und die Kalyana Mandapa (Hochzeitshalle), wo alljährlich
die Hochzeit der residierenden Gottheit mit seiner Begleiterin gefeiert
wurde. Der durch eine Mauer geschützte Tempelbereich hatte vier Tore, über
die die Gapurams- Türme, die sich über dem Eingang zum Tempel
erhoben-, gebaut wurden. Die Pandyas, die nach den Pallavas die Macht übernahmen,
entwickelten die Gopurams zur besonderen Vollendung. Sie waren die neuen,
von weitem sichtbaren Zeichen der sich entfaltenden Tempelstädte. Der
Gopuram wurde mit Tausenden von Figuren versehen, die der Landbevölkerung
die indischen Legenden bildlich vor Augen führten. Am Ende dieser
Entwicklung entstanden komplette Tempelstädte, die manchmal riesige
Ausmaße annahmen. Besonders gut Beispiele sind die Tempelanlagen von
Sri Rangam, Madurai und Thanjavur.
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Die jainistische Architektur |
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Die Jaintempel unterscheiden sich architectonisch nicht wesentlich von den
Hindutempeln. Sie weisen jedoch einige bemerkenswerte Besonderheiten auf. Im
Gegensatz zu den Hindutemplen wirken sie von außen schlicht, ihren
Reichtum an Skulpturen entfalten sie im Innenbereich. Die Cella ist manchal
nach allen vier Himmelsrichtungen geöffnet (Chaumukh). Generell sind
die Jaintempel lichtdurchflutet. Manchmal besitzen sie auch geschlossene Räume,
in die sich die meditierenden Gläubigen zurückziehen können.
Der große Chaumukhtempel zu Ehren von Adinath in Ranakpur (Rajasthan)
ist mit seinen 29 Hallen und 1444 fein geschnitzten Säulen ein sehr schönes
Beispiel dafür. In anderen Regionen entstanden durch den Bau immer
neuerer Tempel riesige Tempelstädte. In Palitana (Gujarat) findet man
auf dem Shatruyanaberg 863 Tempel, viele von ihnen mit feinen Marmorfiguren
im Innenbereich.