Die Mehrheit der Bevöllkerung Indiens lebt von der Landwirtschaft
,wobei es oft kaum zum Überleben reicht und kleine
Siedlungsgemeinschaften oder überschaubare Gebiete Selbstversorgung
erstreben müssen. Alltag und wirtschaftliche Notwendigkeiten förderten
nicht etwa die Bereitschaft zum Reisen oder zum häufigen Verlegen des
Wohnsitzes, sie machten im Gegenteil Mobilität fast unmöglich.
Vor diesem Hintergrund dürften alle Reisen der Hindus auf Wallfahrten
beschränkt gewesen sein. Das Wort für Reise (Yatra) ist dem auch
gleichbedeutend mit Wallfahrt.
Der Ort, zu dem eine Wallfahrt führt, wird meist Tirtha genannt. Die
Bezeichnung von Pilgerorten wird auch im übertragenen, geistlichen
Sinne verstanden. Die Heiligkeit eines Ortes soll dem Besucher helfen, über
den ,,Ozean weltlicher Existenzen" überzusetzen, den Strom der
Unwissenheit zu überqueren, Unreinheit und Sünde abzuwaschen und
abzulegen- Vergleiche, die man immer wieder hören kann , und die etwas
von der religiösen Bedeutung wiedergeben, die Hindus der Wallfahrt
beimessen.
Auch Erhebungen im Gelände, Berggipfel u.ä. gehören zu den
Orten, die besonders gern Standort für einen Tempel,damit zum Wohnsitz
einer Gottheit und Pilgerort, werden können; dort gibt es ebenfalls
meist künstlich angelegte und befestigte Teiche (Bassins), in denen die
Pilger baden können.
Ein Pilgerort kann, muß aber nicht ein Tempel sein; d.h., die
Wallfahrt kann, muß aber nicht einer Gottheit gelten. Der Fluß
selbst oder eine heilge Stadt wie Varanasi können Ziel einer Wallfahrt
sein. In einem solchen Fall gilt das herfürchtige Umschreiten dem
heiligen Ort selber. Im Mahabharata, dem größeren und älteren
der beiden Sanskrit-Epen, wird eine Pilgerreise beschrieben, die man als ein
,,Umschreiten" von ganz Indien interpretiert hat, da sie, im
Uhrzeigersinn, zu den äußersten Punkten des Subkontinents führt.
Was veranlaßt einen Hindu, eine Wallfahrt zu unternehmen? Das
Hauptmotiv, will man den alten Quellen glauben, welche die Vorzüge
einzelner Pilgerorte anpreisen, ist das Teilhaben am religiösen
Verdienst, das dem Besuch eines Ortes und dem Vollzug bestimmter,
vorgeschriebener Handlungen dort anhaftet. Religiöser Verdienst ist das
positive Gegenstück zu ritueller Unreinheit und Sünde; es stellt
jene oft als gleichsam materialisierte und meßbare Größe
dar, die zu einer Verbesserung der weltlichen Lebensbedingungen und damit
letzlich zur Möglichkeit führt, die Voraussetzungen für die
Erlösung aus der Welt zu erfüllen. Befreiung von Krankheit und
Leiden, Erlangen von Nachkommenschaft und Reichtum, der Gegenwert "
von seltenen und aufwendigen Opferriten und ihr förderlicher Einfluß
auf das jenseitige Geschick, Wiedergeburt in angesehenen Brahmanenfamilien,
als Gelehrter oder als Yogin, ungeheuer lange Aufenthalte in himmlischen
Welten oder in der Nähe erwählter Gottheiten. All das gehört
zu den Wirkungen, zu den ,,Verdiensten", deren man durch den Besuch an
einem Pilgerort teilhaftig weden kann.

Um solche Ansprüche glaubhaft derstellen zu können, muß ein
Pilgerorte in dem Ruf stehen, altehrwürdig und ,,erprobt" zu sein.
Natürlich gibt es Pilgerorte, die in Vergessenheit geraten sind, aber
es dürfte keinen angesehenen Pilgerort geben, an dem die ortsansässigen
Brahmanen nicht von den mythischen Ursprüngen und von Ereignissen zu
berichten wissen, die die Heiligkeit und Wirkkräftigkeit des Ortes
unter Beweis stellen. Jeder Pilger, der sich auf den Weg zu einem
Wallfahrtsort macht, hat zumindest indirekt von der Mythologie Kenntnis
genommen, die den Ort umgibt. Mitreisende und die Preister eines Pilgerortes
erzählen die alten Geschichten nach und verbreiten damit die Lehren,
Grundwerte und Grundbegriffe, die den Pilger mehr oder weniger
unausgesprochen zu seiner Wallfahrt veranlaßt haben. Der Pilger stellt
sich in eine Ordnung, die seine eigene, kleine Welt auf Gott und Erlösung
hin transzendiert. Die Mühsal der Reise wird ihm zur Askese, das
rituelle Bad am Plilgerort zur Gewißheit, diesseitigem und jenseitigem
Heil näher gekommen zu sein.
Naben der mythologischen und theologischen Ebene gibt es aber auch viel
persönlichere Beweggründe für Wallfahrten. Sehr oft ist eine
Wallfahrt Bestandteil eines Gelübdes, das aus konkreten Anlässen
oder Bedürfnissen heraus geleistet wurde. Man wünscht sich einen
Sohn, oder die Verheiratung eines Hindus macht Schwierigkeiten, man sorgt
sich um eine gute Ernte oder um Erflog bei einer Unternehmung. Schlißlich
werden besondere rituelle Anlässe mit dem Besuch eines Pilgerortes
verknüpft; Kindern werden zum ersten Mal die Haare geschnitten, einem
Kind oder Jungendlichen wird die heilige Schnur umgelegt. Für einige
Riten gibt es Orte, die sich so sehr darauf spezialisiert haben, daß
nur dort das jenseitige Heil des oder der verstrobenen Vorfahren gesichert
werden kann, daß sich der Brauch entwickelt hat, solche Riten
stellvertretend von ortsansässigen Brahmanen durchführen zu
lassen. Die Handlungen und Riten, die von einem Pilger am Ziel seiner Reise
erwartet werden, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von heimischen
Riten oder der Gottesverehrung im Tempel. Die Beziehung zur Gottheit und die
Übertragung ihrer Gnade und Kraft geschieht vor allem durch das
Anschauen, durch die Gegenwart des Pilgers vor dem Götterbild.
Besonders zu Zeiten, da der Andrang in einem Tempel groß ist, werden
die Pilger nur an dem Götterbild vorbeigeleitet; zu mehr als einer
verehrungsvollen Verbeugung, einer Blumen-und Wasserspende, der
Entgegennahme des ,,Fußwassers" der Gottheit oder eines anderen
symbolischen Gandenerweises, reicht es nicht. Die Tempelpriester weden
darauf achten, daß die Ernsthaftigkeit des Pilgers und die Bedeutung
seines Anliegens sich in einer Geldspende an Brahmanen und Tempel ausdrückt;
und auch die Bettler wissen um das religiöse Verdienst, das dem
Almosengeben anläßlich einer Wallfahrt anhaften und geben dem
Pilger Gelegenheit, sich solchen Verdienst zu erwerben, indem sie sich vor
dem Tempel oder beim Zugang zu einem heiligen Badeort niederlassen.
Unterwegs zu einem Pilgerort, oftmals auch während des Besuchs von
Tempeln, werden fromme Lieder gesungen; sie dienen der Einstimmung des
Pilgers. Sie drücken jene Stimmungen aus, welche die Pilgerfahrten aus
dem Alltagsleben herausheben und zu einem besonderen Anlaß machen.
Pilgerorte sind überdies oft die Aufenthaltsorte von Asketen, Angehörigen
mönchischer Orden, von heiligen Männern aller Schattierungen. Man
kann also nicht nur den segnenden Anblick der Gottheit erhalten, sondern
auch jenen von heiligen Männern.
Die Wallfahrt drückt etwas vom Elösungsstreben und Erlösungsideal
aus, das den Hinduismus als religiöse und soziales System zusammenhält.
Im Verständnis der Mehrzahl der Pilger und zum wohlgehüteten
Vorteil jener Brahmanen, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, wird in
der Praxis das Ideal einer endgültigen Lösung und Erlösung
von der Welt umgesetzt in die zeitlich begrenzte Bereitschaft, alles hinter
sich zu lassen und in die ,,Hauslosigkeit" aufzubrechen.
Eine spirituelle Pilgerreise nach Indien hat viele Formen und kann im
ganzen Land erfolgen.