Das heutige Indien ist in erster Linie eine Dorfkultur. Im Kontext des dörflichen
Lebens ist eines der mächtigsten und bedeutendsten göttlichen
Wesen die Dorfgottheit (Gramadevata). Es handelt sich um eine Gottheit, die
hauptsächlich mit dem Dorf identifiziert wird und für die die
Dorfbewohner oft eine besondere Zuneigung hegen.
Es ist in der Tat nicht ungewöhnlich, dass es in einem Dorf mehrere
Dorfgottheiten gibt, von denen jede eine besondere Funktion hat.
Diese Dorfgottheiten sind noch zahlreicher als die indischen Dörfer
selbst und natürlich in ihrem Charakter recht unterschiedlich. Allein
ihre Namen deuten verschiedene Charakterzüge und Funktionen an. Manche
dieser Gottheiten sind regionale Berühmtheiten, oder zumindest wird der
Name einer bestimmten Dorfgottheit in einer ganzen Region sehr bekannt oder
geläufig sein.
Die Dorfgottheiten teilen oftmals ihre Namen oder Attribute mit denen der
Gottheiten des Sanskrit-Pantheons und werden in der Vorstellung der
Dorfbewohner mit diesen Gottheiten identifiziert. Dies muss aber nicht heißen,
dass die Dorfgottheit viele Ähnlichkeiten mit dem betreffenden großen
Gott aufweist. Die Gleichheit der Namen mag kaum mehr als den bewussten
Versuch anzeigen, die Dorfgottheit mit einem umfassenderen religiösen
Universum in Verbindung zu bringen oder die örtliche Gottheit für
neugierige Außenseiter erkennbar zu machen. In den meisten Fällen,
in denen eine solche Identifizierung existiert, unterscheidet sich die
Dorfgottheit deutlich von der großen Gottheit, mit der sie sich den
Namen teilt.
Trotz der großen Zahl und der Mannigfaltigkeit der Dorfgottheiten hat
man verschiedene gemeinsame Charakterzüge erkannt, die für diese
lokalen Gottheiten typisch sind. Erstens werden diese Gottheiten
normalerweise nicht durch anthropomorphe Bilder dargestellt. Sie werden gewöhnlich
durch unbehauene Steine, durch Bäume oder kleine Schreine repräsentiert,
die kein anthropomorphes Bildnis enthalten. Manchmal gibt es überhaupt
keinen Schrein, mit Ausnahme von bestimmten Festzeiten, für deren Dauer
vorüberg ehend Gebilde errichtet werden, um die Gottheit unterzubringen
oder darzustellen. Zweitens ziehen diese Gottheiten, die zum größten
Teil Göttinnen sind, die Hauptaufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich.
Sie haben die Tendenz, mit mehr Intensität verehrt zu werden als die
großen Götter des Hindu-Pantheons. Obwohl man allgemein
anerkennt, dass die großen Götter die weiten, kosmischen Rhythmen
beaufsichtigen, sind sie für die Dorfbewohner nur von begrenztem
Interesse. Viele von ihnen wurden traditionsgemäß nicht einmal
innerhalb der Umgrenzungen der Tempel dieser Gottheiten geduldet. Im
Gegensatz dazu spricht die Dorfgöttin die Dorfbewohner unmittelbar
dadurch an, dass sie mit ihren örtlichen, existentiellen
Angelegenheiten in Verbindung steht. Sie verstehen sie als ihre Gottheit,
die sich insbesondere um ihr Wohlergehen und um das ihres Dorfes kümmert.
Schließlich werden diese Dorfgottheiten oft direkt mit Krankheiten,
plötzlichen Todesfällen und Katastrophen assoziiert. Wird das Dorf
von Unglück und insbesondere von Seuchen bedroht, sagt man gewöhnlich,
dass sich darin die Dorfgottheit manifestiert. Sie bricht in die dörfliche
Szenerie ein, begleitet von Katastrophen, die die Stabilität und sogar
das Überleben des Dorfes bedrohen. Überdies ist ihre Rolle gegenüber
solchen Seuchen oder Katastrophen ambivalent. Sie ist in der Wahrnehmung der
Dorfbewohner diejenige, welche diese Krankheiten verursacht, zugleich aber
auch diejenige, die das Dorf vor ihnen schützt.